Die meisten Menschen, die diesen Text bis zu Ende lesen, werden ihn falsch verstehen.
Nach dem Lesen werden sie felsenfest davon überzeugt sein, dass ich etwas ganz anderes geschrieben habe als das, was hier eigentlich steht.
(Und ja, rein statistisch gesehen bedeutet das leider, dass die Chance groß ist, dass auch du diesen Text völlig falsch verstehen wirst.)
Warum ich mir da so sicher bin?
Weil dieser Text das Weltbild der meisten Menschen in Frage stellt. Und es gibt nichts, was Menschen so sehr mit Zähnen und Klauen verteidigen, wie ihr Weltbild.
Nichts.
Nicht ihre Kinder, nicht ihr eigenes Leben.
Die meisten Menschen würden alles tun, damit sie ihr Weltbild nicht in Frage stellen müssen. Unter anderem würden sie, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Text lesen und danach felsenfest davon überzeugt sein, dass etwas völlig anderes darin steht, als er eigentlich sagt.
Nie war das so gut zu sehen wie in dieser Zeit.
Neulich habe ich mit einer alten Freundin telefoniert, die in einer öffentlichen Einrichtung arbeitet.
Sie erzählte mir, dass sie und ihre Kollegen darüber diskutieren, ob sie auch „später“, wenn alles wieder „normal“ ist, teilweise bei Homeoffice bleiben werden – ob sie überhaupt wieder zurück ins Büro möchten, oder auf jeden Fall zurück, oder vielleicht ein oder zwei Tage in der Woche, und wie man das alles organisieren könnte.
Dieses Telefonat hat mich sehr betrübt, grade weil es so typisch ist für die jetzige Zeit.
Viele Menschen fragen sich im Moment, ob und wann wir jemals wieder zu einer „Normalität“ zurückfinden werden – und wie diese Normalität dann aussehen wird.
Und wenn die vergangenen Monate eins gezeigt haben, dann eben dass viele Menschen fast alles tun würden, damit ihre „Normalität“ weitergeht.
Hauptsache, man kann vor sich selbst so tun, als ob alles „normal“ wäre.
Wenn ich mit solchen Menschen spreche, die ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass alles „normal“ ist oder demnächst wieder wird… dann bin ich immer ein wenig ratlos.
Denn was soll ich da sagen? Dass es nie wieder „normal“ werden wird? Und je schneller wir uns darauf einstellen, desto schneller können wir etwas Neues aufbauen?
Doch das ist genau das, was die meisten Menschen nicht hören wollen – und nicht einmal hören können.
Sie sind so gefangen in ihrem Drang nach „Normalität“, in ihrem bestehenden Weltbild, dass es ihnen unmöglich ist zu akzeptieren, dass die Welt sich verändern wird.
Schon der Gedanke daran ist eine Bedrohung ihres Weltbilds. Und das eigene Weltbild wird von den meisten Menschen um jeden (wirklich jeden!) Preis verteidigt.
Wenn ich dann sage, dass es nicht wieder „normal“ wird (und hey: wollten wir das überhaupt? Soooo toll war die alte Normalität ja in vielem auch nicht!), dann reagieren die meisten Menschen wie kleine Kinder:
Sie stecken sich die Finger in die Ohren und singen ganz laut „la, la, la“, damit sie die unbequeme Wahrheit nicht hören müssen.
Deshalb sage ich meistens gar nichts mehr. Wenn ich zum Beispiel der alten Freundin in diesem Telefonat erklärt hätte, dass die Frage, an wievielen Tagen sie im Homeoffice arbeiten wird, in ein paar Monaten oder wenigen Jahren ihr kleinstes Problem sein wird, weil die Welt bis dahin eine ganz andere sein wird…
….dann hätte sie mich nicht einmal verstanden.
Und mit diesem Text hier wird es ähnlich sein.
Die meisten, die ihn lesen, werden nach ein paar Absätzen aufhören. Oder sie werden ihn zu Ende lesen und felsenfest davon überzeugt sein, dass etwas ganz anderes darin stand, als ich eigentlich geschrieben habe. La, la, la – bitte weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen.
Ich habe mich deshalb lange gefragt, ob ich ihn überhaupt schreiben soll.
Denn was soll ein Text, der nur von denen verstanden werden wird, die den Inhalt sowieso schon wissen und verstehen?
Doch andererseits… vielleicht gehörst ja grade du zu denjenigen, die jetzt im Moment beim Lesen offen sind für neue Gedanken… die sich darauf einlassen können, dass „normal“ nie wieder sein wird… und vielleicht legt dieser Text grad bei dir ein kleines Samenkorn, das wachsen wird und Früchte tragen.
Wir werden es sehen, nicht wahr? :-)
Und vielleicht, vielleicht, liege ja auch ich völlig falsch, wir werden alle zur „Normalität“ zurückkehren und die Frage, wieviele Tage die Woche wir im Homeoffice arbeiten, wird tatsächlich unser aller größtes Problem sein.
Doch wenn ich richtig liege, dann lässt sich das, was im Moment geschieht und noch geschehen wird, am ehesten mit einem Tsunami vergleichen.
Hast du schon mal einen Tsunami gesehen? (Hoffentlich nicht selbst erlebt, sondern nur in einem Video gesehen!)
Ganz unbedarft stellt man sich so einen Tsunami ja als große Welle vor, die über den Strand schwappt. Und tatsächlich gibt es das auch, diese großen Wellen, die alles auf einer Strandpromenade oder am Ufer mit sich reißen.
Ein Tsunami hat aber auch noch eine ganz andere Qualität, die man am besten an einem Fluss weiter im Landesinneren, flussaufwärts von der Meeresmündung, sieht.
Dort zeigt sich nicht nur die unbändige Kraft eines Tsunamis, sondern auch seine wahre Natur:
Ein Tsunami ist nicht eine große Welle, sondern pure Energie, die immer weiter vom Meer her ins Land drückt und dabei alles mit sich reißt.
Zuerst herrscht scheinbare Ruhe: das Flusswasser wird hinaus ins Meer gesaugt, das Flussbett ist fast leer.
Menschen stehen an der Uferpromenade und filmen das Spektakel.
Dann dreht sich die Fließrichtung um, und das Wasser drückt über das Flussbett herein landaufwärts.
Langsam zunächst, aber unaufhörlich – und mit einer Kraft, die sich von nichts aufhalten lässt.
Innerhalb von Minuten steigt es über den normalen Flusspegel hinaus und beginnt, die ersten Boote am Ufer mit sich zu reißen.
Immer noch stehen viele Menschen auf der erhöhten Uferpromenade, ungläubig und aufgeregt, um den Tsunami zu sehen. Kaum einer kann fassen, was hier geschieht – und was noch geschehen wird.
Immer weiter steigt das Wasser, jetzt bis an den Rand der Uferpromenade.
In der Ferne ist eine Welle von Schutt zu sehen, den das Wasser flussaufwärts mit sich spült – Boote, Aufbauten, Gegenstände, alles wurde weiter flussabwärts mitgerissen und schwappt jetzt hier in der Stadt vorbei.
Die Menschen, die jetzt noch am Ufer stehen, beginnen zu begreifen, dass das Wasser nicht aufhören wird zu steigen, und laufen um ihr Leben auf höheren Grund oder in stabile, hohe Häuser hinein. Hinter ihnen schwappen die ersten Wellen über die kleine Mauer auf die Uferpromenade.
Innerhalb dieser wenigen Minuten hat sich alles verändert, und das Wasser steigt immer weiter.
Mehr und mehr Schutt wird angeschwemmt. Die ersten Brücken, die hoch über den Fluss gespannt waren, werden von der Wucht des Wassers mitgerissen.
Und immer noch drückt mehr und mehr Wasser vom Meer herein, unaufhaltsam. Zwischen die Häuser, über die Straßen.
Autos, Laster, ganze Häuser schwimmen vorbei. Und das Wasser steigt und steigt.
So unspektakulär, wie der Tsunami anfing, so unspektakulär dreht er sich auch wieder: Das Wasser fließt ab, und reißt beim Abfließen all das mit sich, was vorher noch stand.
Und nach der ersten Welle kommt eine Zweite, eine Dritte, die wiederum mit einer unvorstellbaren Wucht alles vor sich her schieben und mit sich reißen.
Nur wenige Strukturen können dieser Macht standhalten. Und das Wenige, was dem Tsunami widerstanden hat, fällt zum Teil den Bränden zum Opfer, die durch den Tsunami ausgelöst wurden.
Am Ende, wenn alles vorbei ist, ist von den menschengemachten Strukturen nicht mehr viel übrig.
Solch einen Tsunami erleben wir gerade.
Denn alles, was gerade passiert, wird nicht von Menschen verursacht, und auch nicht von Viren.
Zugegeben, manche Menschen machen mit ihrem Handeln die Lage nicht grade besser. Manche versuchen, die Situation für ihre Zwecke auszunutzen und denken, sie könnten den Tsunami steuern. Aber das ist so in jeder Situation, in der Menschen beteiligt sind (und wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein).
Doch das sind alles nur Kleinigkeiten in dem, was gerade passiert – Menschen und Krankheitserreger sind wie ein mitgerissenes Boot, das weiteren Schaden an der nächsten Brücke anrichtet.
Aber das, was sie mitreißt, ist der Tsunami.
Und wir, wir stehen immer noch ungläubig und aufgeregt an der Uferpromenade und starren auf das mitgerissene Boot, den treibenden Schutt – auf das menschliche Versagen und Fehlhandeln, auf Viren und medizinische Behandlungen.
Das Problem ist aber nicht „Corona“, und die Flut wird nicht zurückgehen, wenn wir „das Virus im Griff haben“ oder wenn endlich genügend Menschen dies oder das oder jenes tun.
Ein Tsunami endet nicht, nur weil jemand ein losgerissenes Boot wieder anbindet.
Und auch wenn die erste Welle sich irgendwann zurückgezogen hat, folgt eine zweite oder dritte, folgen die Brände und Gaslecks, die von solch einer Gewalt verursacht werden.
Es wird Zeit, dass wir die Realität erkennen und akzeptieren, dass wir die ungläubige Starre abschütteln und uns von der Uferpromenade zurückziehen – dass wir die alte „Normalität“ loslassen.
Dieser gewaltige Tsunami, den wir gerade erleben, dauert nicht nur Minuten oder Stunden, sondern Monate oder vielleicht sogar Jahre.
Bis dahin können wir nicht viel tun außer:
Uns und undere Lieben, so gut es eben geht, in Sicherheit bringen und versorgen.
Anderen die Hand reichen, um sie in die rettende Höhe zu ziehen – ohne uns von ihnen herunterzerren zu lassen.
Abwarten, Geduld üben. Loslassen, was fortgerissen wird. Um das trauern, was wir verlieren.
Und uns überlegen, was wir später wieder neu aufbauen möchten, und wie das dann aussehen soll.
Dieser Tsunami wird mit dem Ende von „Corona“ noch lange nicht zuende sein. Corona ist, bestenfalls, die erste Welle, auf die dann noch weitere Wellen folgen werden. Im schlimmsten Fall ist Corona nur das mitgerissene Boot, die eingerissene Brücke – und die wahre Wucht des Wassers kommt erst noch.
Am Ende wird von den Strukturen, die wir Menschen aufgebaut haben, nicht mehr viel übrig sein. Und damit meine ich nicht Gebäude oder Brücken, sondern die abstrakten Strukturen, die gesellschaftlichen und politischen: Kirchen, Verbände, Gesundheits- und Bildungssysteme, Regierungen, Gewerkschaften, Medien und vieles mehr.
Wieviele Tage wir im Homeoffice arbeiten, wird am Ende keine Frage mehr sein, weil Firmen und Arbeitswelt ganz anders sein werden als jetzt.
Wir werden sehr viel neu aufbauen müssen – und sehr viel neu aufbauen dürfen.
Und die, die denken, sie könnten diesen Tsunami beherrschen und lenken und damit entscheiden, wie unsere Welt in Zukunft aussehen wird… auch die werden irgendwann demütig erkennen müssen, dass ihre Macht nicht so weit reicht, wie sie dachten.
Die Wucht hinter dem Tsunami sucht sich ihren eigenen Weg.
Das bedeutet nicht das Ende der Welt – sondern nur das Ende der Welt, so wie wir sie bisher kannten.
Auf die Zerstörung zu schauen, die sich vor uns ausbreitet, tut weh. Viele Menschen werden viel verlieren, und viele Tränen weinen.
Aber irgendwas, irgendwo, hat diesen Tsunami augelöst, und nun ist er da. Diese Wucht halten wir Menschen nicht auf. Gegen die Flut anzukämpfen ist verschwendete Energie.
Je schneller wir akzeptieren, dass am Ende viele Dinge nicht mehr so sein werden wie vorher, dass viele Strukturen nicht mehr existieren werden, desto eher geht der Schmerz vorbei, und desto schneller wird der Tsunami vorüber sein.
Am Ende dann, wenn alles Wasser abgelaufen ist und alle Brände gelöscht sind, werden wir gemeinsam neue Strukturen aufbauen.
Und das ist es, was so ungeheuer viel Mut macht:
Bei allem Schmerz über das, was wir verlieren, tut uns der Tsunami doch den Gefallen, all das fortzuspülen, mit dem wir eigentlich sowieso nicht mehr zufrieden waren.
Er wird auch die wegspülen, die versuchen, diese Naturgewalt für ihre eigenen Zwecke auszunutzen und zu lenken. Auch sie werden erfahren, dass dieser Tsunami sich seinen eigenen Weg sucht – und nicht ihren Weg geht.
Dieser Tsunami gibt uns die Chance, ganz neu anzufangen – nicht nur als einzelner Mensch, sondern auch als ganze Gesellschaft.
Der Weg nach vorne, ins Neue, ist schmerzhaft. Wir müssen mit Verlust und Trauer umgehen, mit Tod und Zerstörung.
Aber der Weg zurück zum „Normalen“, mit dem wir sowieso nie richtig zufrieden waren, ist eingerissen.
Deshalb ist das, was wir grade erleben, ein Geschenk. Es schenkt uns die Freiheit, das zu tun, was wir schon immer anders machen wollten.
Alles, was wir tun müssen, ist loszulassen und dieses Geschenk dankbar zu ergreifen.
Ist das nicht eine wunderbare Aussicht?
….
(Wenn du noch nie solch ein Video von einem Tsunami weiter flussaufwärts gesehen hast, dann kannst du dir wahrscheinlich trotz meiner Beschreibung nicht vorstellen, was ich meine. Manche Dinge muss man wohl tatsächlich gesehen haben, um sie sich vorstellen zu können.
Hier ist zum Bespiel solch ein Video. Es ist aber, vor allem gegen Ende, nichts für empfindliche Gemüter.)
Foto: Todd Turner bei Unsplash
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