Im Moment häufen sich wieder die Anrufe der netten Herren, die bei „Microsoft“ arbeiten und nur um die Sicherheit meines Rechners besorgt sind.
Über viele Jahre habe ich bei solchen Anrufen einfach aufgelegt, weil, naja… warum nicht? Jede Diskussion ist da sinnlos und kostet nur Lebenszeit. (Meine – die der angeblichen Microsoftmitarbeiter ist mir in diesem Fall herzlich egal.)
Dann hatte ich eine Phase, in der ich mit versuchte, meinen Unmut während des Gesprächs in hintersinnigen Humor zu kanalisieren. Leider scheinen die darauf geschult zu sein, das zu erkennen, und das Telefonat dauerte selten lang (ich fühlte mich danach aber immer noch unbefriedigt leer).
Inzwischen, ja ich gebe es zu: Inzwischen freue ich mich an manchen Tagen sogar fast über einen Anruf von „Microsoft“.
Weil, ganz ehrlich, es gibt so Tage, da würde man am liebsten jemandem so richtig die Meinung geigen, oder?
Aber das geht ja nicht immer, wegen grundsätzlicher Höflichkeit und so; weil man an manchen Stellen nicht gleich das Tischtuch zerschneiden will; und auch weil ich manche Dinge lieber nicht vor Gericht wiederholen möchte.
Außerdem bin ich an und für sich ein mitfühlender Mensch und bringe in den allermeisten Situationen durchaus Verständnis für mein Gegenüber auf.
Das heißt aber nicht, dass ich nicht ab und zu auch mal Dampf abzulassen hätte – natürlich bei allem Verständnis für die Lage, in der sich der oder die andere befindet.
Und an solchen Tagen kommen mir die Anrufe von Microsoft gar nicht so ungelegen.
Ich spreche ganz ordentlich Englisch und habe vor allem auch ein recht beeindruckendes Repertoire an englischen Schimpfwörtern.
Und wenn ich sowieso etwas zwischenmenschliche Spannung abzubauen habe und mich zum dritten Mal in einer Woche ein „Microsoftmitarbeiter“ bei der Arbeit unterbricht, dann werde ich eben auch mal deutlich. Also, richtig deutlich.
Nun weiß ich, dass das eigentlich nicht in Ordnung ist.
Ich sollte auch diesen armen Menschen mitfühlend und verständnisvoll begegnen.
Es sind auch nur Menschen. Sie machen doch auch nur ihre Arbeit. Mit irgendwas müssen diese armen Menschen ja auch ihr Geld verdienen. Sollen sie etwa ihre Familie verhungern lassen?
(Im Widerspruch zu der letzten dieser moralischen Keulen steht allerdings meine Beobachtung, dass es in 99% der Fälle Männer sind, die da anrufen. Und da weltweit die typischen „Frauenberufe“ eigentlich eher schlechter bezahlt sind, kann das gar keine so armselige Tätigkeit sein, oder?)
Ich weiß das alles, und manchmal habe ich auch ein schlechtes Gewissen.
Nur: Wer oder was zwingt diese Menschen eigentlich dazu, andere zu betrügen? Gibt es dort, wo sie leben, wirklich keine anderen Jobs?
Soll und muss ich diese Anrufer in dem Moment überhaupt als Menschen sehen – oder sind das Rädchen in einem (betrügerischen) System? Könnte da nicht genausogut ein automatisierter Sprachbot anrufen und das gleiche Programm herunterleiern?
(Wobei… einen Sprachbot zu beschimpfen, das würde mir dann wirklich keine Befriedigung bringen.)
Was macht das Menschsein aus? Gibt man es an der Tür ab, wenn man in solch einem Callcenter arbeitet?
Und wenn nicht: Wie kann man das noch mit seinem Gewissen verantworten?
Bin ich als Gegenüber wirklich moralisch verpflichtet, immer den Menschen zu sehen? Oder ist es die Rolle im System, mit der ich mich an dieser Stelle auseinandersetzen darf – oder sogar muss?
Manche argumentieren: „Wenn ich diese Tätigkeit nicht mache, dann macht es eben ein anderer.“
Das stimmt. Nur: Gibt man nicht an diesem Punkt sein Menschsein ab, wenigstens für die Dauer der Tätigkeit, und wird eins mit der Rolle?
Wenn ich so argumentiere, habe ich dann noch ein Anrecht darauf, von meinem Gegenüber menschlich behandelt zu werden – denn ich handle ja auch nicht mehr wirklich als der Mensch, der ich bin?
Kann ein Mensch überhaupt gleichzeitig Mensch sein und Rädchen im System, oder ist immer nur eins davon möglich?
Wenn mich eine Behördenmitarbeiterin unmöglich behandelt, kann ich dann im System gegen sie vorgehen und sie trotzdem gleichzeitig noch als Mensch sehen?
Bin ich moralisch sogar dazu verpflichtet? Oder ist das unmöglich, und es steht mir zu, hier nur das Systemrädchen zu sehen?
Fragen über Fragen, und ich habe keine Antwort darauf.
Nur eins: Ich sehe im Moment mehr und mehr Rädchen im System, die ihr Menschsein scheinbar gerne an der Bürotür abgeben.
Ich sehe aber genauso mehr und mehr Menschen, die ihr Menschsein eben nicht an dieser Tür abgeben – und die Konsequenzen tragen.
Wie können wir die einen bestärken und schützen, und den anderen Mut machen zum Menschsein?
Foto: Bill Oxford bei Unsplash
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