Neulich abends, ein Konzert eines bekannten deutschen Musikers in einem kleineren Club, das Publikum gemischt bis eher jung…
Die vielen Handys vor Beginn des Konzerts haben mich ja nicht mehr wirklich überrascht. (Wie bitte? Ihr seid zu viert abends weg und habt nichts Besseres zu tun, als euch anzuschweigen und auf dem Handy zu daddeln? Ich würde mir ja andere Freunde suchen, wenn ich mir gar nichts mehr zu sagen hätte…)
Aber sei’s drum. Auch die Tatsache, dass ein Großteil der Menschheit Konzerte offensichtlich nur noch besucht, um Film- oder Fotoaufnahmen zu machen, hätte mich eigentlich nicht wundern dürfen – tut es aber trotzdem irgendwie immer noch.
Der Preis für die seltsamste Aktion des Abends ging aber ganz klar an die junge Dame schräg links vor mir, die den kompletten Abend damit verbrachte, gleichzeitig mit ihrem Handy UND einer Digitalkamera das Konzert aufzunehmen.
Ja, du hast das richtig gelesen: Während des kompletten Konzerts zwei Hände in der Luft, was ja schon eine sportliche Leistung ist – nur leider nicht zum Mitklatschen. Während des kompletten Konzerts beide Augen krampfhaft auf zwei Bildschirme gerichtet. Alleine das ist anatomisch eine echte Herausforderung, und die Aufnahmen waren dementsprechend verwackelt.
(Nur am Rande bemerkt: Was der ganzen Aktion die Krone aufsetzte war die Tatsache, dass sie nach jedem Lied den Aufnahmemodus wechselte: einmal Fotos mit der Kamera und ein Filmchen mit dem Handy, beim nächsten Lied mit der Kamera filmen und mit dem Handy knipsen. Faszinierend, nicht wahr? ;-) )
Aber zurück zum Thema, zum „er“ vor dem Leben…
Anstatt nach dem Konzert beschwingt und voller Glückshormone nach Hause zu gehen, fühlte ich mich irgendwie… verwirrt… leer… frustriert…
Frustriert, weil die vielen Handys in der Luft insgesamt die Sicht auf die Bühne nicht wirklich verbesserten. Und ich bin vielleicht altmodisch, aber wenn ich in ein Konzert gehe, möchte ich wenigstens gelegentlich auch mal einen Blick auf die Bühne erhaschen, der nicht von einem Handy-Bildschirm getrübt wird.
Verwirrt, weil diese junge Dame mit dem Handy und der Kamera… Du verstehst schon… Ich suche heute noch nach dem Sinn dieser Aktion.
Und leer, weil ich mich gefragt habe, ob wir das „er“ aus dem Leben jetzt wirklich schon fast völlig gestrichen haben? Können wir Dinge nur noch genießen, wenn wir sie durch den Filter eines Handybildschirms sehen? Ist es uns nicht mehr möglich, einfach im Augenblick da zu sein und Freude zu haben? Bedeutet Genuß nur noch, den Moment festzuhalten, damit wir ihn später digital genießen können – auch wenn uns das den unbeschwerten Genuss in diesem Moment unmöglich macht?
Eine Vorstellung, die mich irgendwie erschauern lässt. :-(
Deshalb möchte ich hier ein Plädoyer für das „er“ vor unserem Leben halten!
Doch was bedeutet dieses „er“ eigentlich genau? Erfassen, ergreifen, erwirtschaften, erdenken, erdichten, erschaffen, erfahren oder eben erleben… All diese Begriffe drücken aus, dass wir etwas tun, das wir aktiv werden, das wir unser Leben anpacken.
Gleichzeitig haben sie noch einen weiteren wichtigen Aspekt, den der Duden sehr prägnant formuliert:
er-
Wortart Präfix
drückt in Bildungen mit Verben aus, dass etwas erfolgreich abgeschlossen wird, zum gewünschten Erfolg führt, dass man eine Sache bekommt, erreicht
Wenn wir unser Leben „er-leben“, dann packen wir es also an. Dann tun wir etwas mit unserem Leben. Und dann erreichen wir etwas.
Und wie so oft steckt das eigentlich Entscheidende in einem klitzekleinen Detail. Im Dudeneintrag finden wir dieses wichtige Detail in dem Wort „Präfix“, also Vorsilbe: Das „er“ muss vor dem Leben kommen und nicht danach! Nur wenn wir Dinge anpacken, uns auf den Moment einlassen und Sachen abschließen, nur dann können wir unser Leben auch „er-leben“.
Denn im Nachgang geht das nicht. Ich kann nicht ein Konzert auf dem Handy aufnehmen und es dann zu Hause zum ersten Mal erleben, mit allen Glücksgefühlen und Tiefen. Ich kann aber sehr wohl ein Konzert in vollen Zügen genießen, und mich dann zu Hause von einer Aufnahme daran erinnern lassen, wie wunderbar dieser Abend war.
„Er-leben“ heißt also immer, dass das „er“ vor dem Leben kommt – oder wenigstens nicht danach…
Das Leben zu erleben bedeutet dann nicht einfach nur, dass wir im gegenwärtigen Moment möglichst präsent sein sollten und einem Konzert aufmerksam folgen.
Das Leben zu er-leben bedeutet, sich auf mein Leben mit allen Facetten einzulassen, Möglichkeiten beim Schopf zu packen, Momente still für mich zu genießen oder laut und fröhlich mit anderen. Es bedeutet, bei allen Rückschlägen und Umwegen doch im Leben voranzukommen und mein Leben „zum gewünschten Erfolg zu führen“, wie der Duden es so schön formuliert.
In diesem Sinne wünsche ich dir und mir heute einen Tag voller Erleben, voller Erschaffen, Erfassen, Erdenken und Erfahren!
P.S.: Außer der Musik und der guten Gesellschaft meiner Begleitung, die wir nicht unerwähnt lassen wollen, konnte ich aus diesem Konzert übrigens noch etwas Weiteres mitnehmen:
Eine junge Dame etwa zwei Reihen vor mir besaß das gleiche Handymodell wie ich. Da ich sozusagen keine andere Wahl hatte, als mit auf ihren Bildschirm zu sehen, konnte ich mir wenigstens noch ein paar neue Kniffe zur Nutzung meines Handys abschauen. Ist doch auch was, oder? ;-)
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