Europa ist in diesem Jahr schon zweimal recht knapp an einem großflächigen Strom-Blackout vorbeigeschrammt.
Nun könnte man denken, so unbedarft, dass dann halt eben für ein paar Tage Stromausfall ist. Was soll’s. Notfalls überlebt man das irgendwie. Auch wenn die Tiefkühlpizzen auftauen, und wenn es ohne Internet, Chats und Netflix ein paar ganz schön lange Tage werden.
Leider ist es aber nicht ganz so einfach.
Bei einem Blackout fällt großflächig, möglicherweise über mehrere Länder, der Strom aus. Durch die Spannungsschwankungen können aber nicht nur elektronische Bauteile in Privathaushalten und in der Industrie (z.B. in deinem Computer oder in den automatischen Produktionsstraßen der Fertigpizzahersteller) geschädigt werden, sondern auch Bauteile in der Stromversorgung selbst.
Große, teure Bauteile.
Bauteile, ohne die sich die Stromversorgung nicht einfach mal eben so wieder herstellen lässt.
Bauteile, von denen manche einzeln angefertigt werden müssen, mit monatelangen Lieferfristen schon in guten Zeiten.
Bei einem Blackout reden wir also nicht von zwei romantischen Tagen bei Kerzenschein, sondern im schlimmsten Fall von einem wochen- oder monatelangen, großflächigen Stromausfall über mehrere Länder.
Nun wächst für die meisten Menschen in der „zivilisierten“ Welt das Essen im Supermarkt.
Bei einem Stromausfall funktionieren aber weder elektronische Warenbestellsysteme noch Tankstellen für Liefer-LKWs, weder Kühlketten noch die Produktionsanlagen für Fertigpizzen, weder Supermarktkassen noch Geldautomaten.
Gewisse Probleme sind da also abzusehen.
Besonders interessant (aus einer rein akademischen Sicht – ich möchte das Experiment lieber nicht selbst erleben!) scheint mir aber die Trinkwasserversorgung zu sein.
Denn ebenso wie Lebensmittel im Supermarkt wachsen, wächst das Wasser für die meisten Menschen in unserer Gesellschaft sozusagen in der Wasserleitung. Wie es da reinkommt, und dass es da erst mal reinkommen muss, das hinterfragt kaum jemand.
Die Zeiten, wo Wasser direkt aus einer Quelle, über eine Holzleitung, bergab auf den Dorfplatz floß, die sind aber vorbei.
An den meisten Orten kommt auch das Trinkwasser nur dann in die Leitung (und damit auf der anderen Seite aus der Leitung), wenn Strom fließt. Elektrische Pumpen, Anlagen zur Wasseraufbereitung, Steuerungsanlagen – sie alle sind auf Strom angewiesen.
Natürlich gibt es mancherorts Notfallaggregate, aber die ungemütliche Wahrheit ist trotzdem:
Bei einem längerfristigen Stromausfall fließt für die meisten Menschen nach recht kurzer Zeit auch kein Wasser mehr aus der Leitung.
Nun bist du vermutlich nicht hierher gekommen, um dich mit Katastrophenschutz zu befassen. ;-)
(Wenn du nach dieser Einleitung aber trotzdem das drängende Bedürfnis hast, dich etwas besser auf manche Eventualitäten vorzubereiten, dann könntest du dich z.B. hier informieren. Komm aber auf jeden Fall wieder zurück, um den Rest meines Textes zu lesen – sonst wirst du nie erfahren, was das alles mit Peter Pan zu tun hat!)
Ich gebe ehrlich zu, dass ich das Beispiel mit dem Blackout auch wegen des wohligen Gruselfaktors als Einstieg gewählt habe – schließlich lesen wir alle gern vom bequemen Sessel aus Katastrophenszenarien…
Aber lass uns doch mal für einen Moment überlegen, was in diesem Fall passieren würde:
Wir nehmen an, es gäbe in Europa tatsächlich einen großflächigen, über Wochen andauernden Stromausfall, der auch Deutschland betrifft. Und spätestens nach ein paar Tagen fließt kein Wasser mehr aus der Leitung.
Was glaubst du, was dann passiert?
Also ganz konkret: Was würden die meisten Menschen tun?
(Ich frage bewusst nicht, was du persönlich tun würdest. Schließlich sind wir selbst in jeder Krisensituation bestens vorbereitet, gut gelaunt und frisiert, absolut cool und der Fels in der Brandung. Falls tatsächlich ein Blackout kommt, könnten Bruce Willis und MacGyver von dir und mir noch etwas lernen, das ist klar! ;-) )
Nein, meine Frage ist: Was glaubst du, wie die meisten Menschen reagieren würden?
Glaubst du, es würde aus Panik zu großflächigen (und ziemlich nutzlosen, denn dadurch fließt ja auch kein Wasser aus den Leitungen) Unruhen kommen?
Oder vielleicht eher, dass die meisten Menschen sich gegenseitig aushelfen, ihre letzten Flaschen Apfelsaft teilen und sich um ihre Nachbarn kümmern?
Oder gehst du davon aus, dass die meisten Menschen aktiv werden, Brunnen bohren, Wasser aus Quellen in die Stadt oder den Ort schaffen, oder Sammelanlagen für Regenwasser basteln?
Nun, schlussendlich weiß ich natürlich genauso wenig wie du, was die meisten Menschen in solch einer Situation tun würden.
Ich vermute auch sehr, dass es hauptsächlich von den äußeren Umständen abhängt – wenn der Nachbar kühl und besonnen anfängt, Regenwasser zu sammeln, tun die Menschen um ihn herum das wahrscheinlich auch. Wenn die ersten völlig kopflos randalieren, randalieren wahrscheinlich andere mit.
Aber wenn wir einmal von solchen gruppendynamischen Effekten absehen, die ja schlussendlich auch nur entstehen, weil viele Menschen keine eigene Entscheidung treffen, sondern einfach das tun, was der neben ihnen tut…
Wenn sie in solch einem Moment auf sich allein gestellt wären, was würden die meisten Menschen in unserer Gesellschaft dann tun?
Ich glaube, die meisten Menschen würden genau eine Sache tun:
Nichts.
Sie würden in ihren Wohnungen oder Häusern sitzen und darauf warten, dass die Regierung oder die Stadtverwaltung oder wer auch immer den Tanklaster vorfahren lässt, aus dem das Trinkwasser kommt.
Und wenn man nun bedenkt, dass ein Mensch nur etwa drei Tage ohne Wasser überleben kann, und dass er schon am zweiten Tag vielleicht nicht mehr die Energie für größere Aktionen oder Unternehmungen hat… dann ist das ein sehr düsteres Bild, das sich da abzeichnet.
Doch warum bringe ich solch ein dystopisches Beispiel hier überhaupt – und was hat das alles mit Peter Pan zu tun?
Wie du vielleicht weißt, ist Peter Pan der Junge, der nie erwachsen wird.
Genauer gesagt ist er, zumindest in den Geschichten, das einzige Kind, das nie erwachsen wird.
Körperlich ein Kind zu bleiben, das schaffen außer Peter Pan nur noch wenige andere fiktive Gestalten.
Aber zum Erwachsen Sein gehört ja nicht nur die körperliche Reife, sondern auch die geistige und emotionale.
Noch vor wenigen Generationen blieb unseren Vorfahren gar nichts anderes übrig, als erwachsen und selbstverantwortlich zu werden.
Wer sich nicht um sein Essen oder sein Wasser kümmerte, der überlebte nicht lange. Eine Krankenversicherung, Rente oder andere Absicherungen vom Staat gab es nicht – jeder war selbst dafür verantwortlich, gesund zu bleiben und sich möglichst nicht zu verletzen. Und wenn der Nachbar durch eine unglückliche Verletzung nicht mehr richtig arbeiten konnte, dann versorgte die Dorfgemeinschaft, die Nachbarschaft oder die Kirchengemeinde eben diese Familie ein Stück weit mit.
Man war sozusagen dazu gezwungen, auch geistig und emotional erwachsen zu werden: mit Rückschlägen und Schicksalsschlägen zu leben, Fehler zu machen und darunter zu leiden, tatkräftig zu handeln, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen.
Moderne Errungenschaften wie medizinische Fortschritte, Rente, Versicherungen oder Kanalisation haben unser Leben in vielen Dingen sehr viel leichter und angenehmer gemacht. Und die meisten von uns wollten diese Dinge sicher nicht mehr missen.
Aber gleichzeitig ist mit der Summe all dieser Errungenschaften die zwingende Notwendigkeit entfallen, erwachsen zu werden.
Denn das Wasser kommt aus der Leitung, auch wenn ich nichts dafür tue. Der Arzt hat ein paar Tabletten gegen jedes Zipperlein, auch wenn ich saufe, rauche und 30 Kilo zu viel wiege. Und wenn das teure Cerankochfeld einen Sprung bekommt, ist auch das versichert.
Und da Menschen naturgemäß (sinnvollerweise!) erst einmal dazu neigen, den einfacheren und bequemeren Weg zu gehen, lassen wir das Erwachsen Werden eben bequemerweise erst mal bleiben.
Schließlich ist Verantwortung anstrengend, auch emotional. Fehler sind unangenehm, Rückschläge entmutigen, und keiner fühlt sich gern nicht gut. Und zum eigenständigen Handeln besteht ja wenig Grund, wenn alles im Supermarkt wächst und der Staat alle Lebenseventualitäten bereitwillig absichert.
Wir haben, sozusagen, mit all diesen Annehmlichkeiten eine Gesellschaft von Peter Pans erschaffen.
Natürlich werden wir alle erwachsen, rein körperlich. Wir bekommen Kinder, und ganz viele Menschen haben so unglaublich viel „Verantwortung“ in ihrem Beruf oder ihrer Familie, dass sie darüber stressbedingt krank werden.
Aber das ist eine Scheinverantwortung, die uns nur erlaubt, uns wichtig zu fühlen.
Echte Verantwortung hat echte Konsequenzen, und sie nimmt diese Konsequenzen in Kauf – und das erleben die wenigsten von uns heutzutage noch regelmäßig in ihrem Alltag.
(Und nein, wenn du wegen eines Fehlers von deinem Chef vor Kollegen gerügt wirst, dann ist das keine echte Konsequenz – das sind höchstens ein paar unangenehme Gefühle.)
Stattdessen lehnen wir uns bequem zurück, geistig und emotional, und warten darauf, dass wir versorgt werden:
Vom Staat mit Krankenversicherung, Rente oder Arbeitslosenversicherung, mit Schwimmbädern und Museen, mit Straßen, Bahnhaltestellen und Radwegen.
Von den Medien mit Informationen.
Von der Pharmaindustrie und Ärzten mit der Pille, die alle unsere gesundheitlichen Probleme behebt und es uns gleichzeitig erspart, mit dem Rauchen aufzuhören oder abzunehmen.
Von Firmen mit Nahrung, Unterhaltung und Klopapier.
Hauptsache, das Leben ist bequem und wir müssen keine eigene Verantwortung übernehmen.
Nun möchte ich nicht in eine Zeit zurück, in der wir Menschen ums tägliche Überleben kämpfen mussten. Ich schätze die Segnungen der Zivilisation. Und ich bin sehr dankbar darum, dass das Wasser einfach so aus der Leitung fließt.
Aber ich glaube trotzdem, dass uns diese Peter-Panisierung der kompletten Gesellschaft nicht gut getan hat.
Wo Menschen keine echte Verantwortung mehr für sich selbst und für ihre Umgebung übernehmen, da wird eine Gesellschaft abhängig.
Abhängig von großen Konzernen, die selten das Wohl der Menschen als Ziel haben. Abhängig von vorgekauten Informationen und vorgedachten Ideologien. Abhängig von einem Staat, der den steigenden Erwartungen nur durch eine immer größere Regelungswut Herr werden kann, so dass den Bürgern am Ende keine Luft mehr bleibt zum Atmen.
Wir Peter-Panisieren uns selbst, unsere Kinder und unsere Gesellschaft zu Tode.
Eine große, gesellschaftliche Lösung für dieses Problem habe ich nicht.
Aber vielleicht braucht es das auch gar nicht?
Vielleicht genügt es, wenn du und ich, wenn jeder einzelne von uns sich nach und nach aus Nimmerland, dem Land der ewigen Kindheit, verabschiedet.
Wenn wir alle anfangen, Stückchen für Stückchen mehr echte Verantwortung zu übernehmen, auch wenn wir dann mit den Konsequenzen leben müssen – anstatt immer darauf zu warten, dass wir von anderen gerettet werden.
Vielleicht genügt es einfach, wenn genügend Menschen den unbequemeren Weg gehen und erwachsen werden.
Foto: Luis Tosta bei Unsplash
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