Diese ganze Situation rund um „Corona“ hat für viele Menschen auch eine positive Seite, mit der sie vorher wahrscheinlich nicht gerechnet hatten.
Und nein, ich meine damit jetzt nicht solche Trivialitäten wie „durch Corona hab ich endlich mal weniger Verpflichtungen“, oder „durch Corona ist mir wieder klar geworden, wie wichtig meine Familie ist“.
Im Moment gehört es ja fast schon zum guten Ton zu sagen, dass einem durch Corona erst klar geworden ist, was wirklich wichtig ist im Leben, und dass man deshalb wirklich dankbar ist für die Situation.
Aber ganz ehrlich: Das ist weichgespülter Quark, mit dem Menschen versuchen, sich selbst die Situation schön zu reden.
Denn keiner von uns leidet gern.
Jeder würde sich lieber wohl fühlen, glücklich sein, alle seine Träume leben.
Aber das Leben besteht nun mal nicht nur aus Einhörnern, die glitzernde, regenbogenfarbige Häufchen machen.
Zum Licht des Lebens gehören auch die schattigen Seiten: die Schmerzen, die Ohnmacht, die Scham, die Angst.
All das ist Teil unseres Lebens, auch wenn wir es da lieber nicht haben wollten.
Und in der Regel tun wir sehr viel, wenn nicht sogar fast alles, um diese schattigen Seiten zu verdrängen.
Das führt dann eben dazu, dass im Moment sehr viele Menschen mit einem wehmütigen Gesichtsausdruck (oder einem leicht gequält wirkenden Lächeln) darauf bestehen, dass doch Corona wirklich auch viele Vorteile hätte.
Zum Beispiel hätten sie jetzt endlich mal Zeit für sich selbst (weil sie ihre Lieben nicht treffen können).
Doch wenn die gleichen Menschen ehrlich mit sich selbst wären, dann würden sie vermutlich viel lieber mit ihren Lieben zusammen sitzen.
Denn wenn es ihnen wirklich wichtig gewesen wäre, mehr Zeit für sich selbst zu haben (und weniger Zeit mit anderen zu verbringen), dann hätten sie das ja auch vor Corona schon haben können, oder?
Nein, das wirklich Gute an dieser ganzen Situation ist das unverdrängte, das ehrlich gefühlte Leiden. Der Schmerz, den viele Menschen empfinden.
Klingt schräg, oder?
Nun bin ich keine Sadistin, und auch keine Psychopathin.
Es tut mir bis tief in die Seele weh, dass alte und kranke Menschen alleine in ihren Pflegeheimzimmern eingesperrt sind. Dass Kindern eingeredet wird, sie wären schuld, wenn die Oma stirbt.
Ich könnte heulen, wenn ich lese, dass Tafeln, Obdachlosentreffs und andere Angebote für Bedürftige und Obdachlose geschlossen sind. Hinter jedem kleine Geschäft, hinter jedem Unternehmen, das jetzt pleite geht, stehen die Träume und die Arbeitsplätze von realen Menschen.
All das setzt mir zu – und ich wünsche mir sehr, dass es anders wäre.
Aber ich glaube auch, dass dieses Leiden, so schlimm es für viele ist, das eigentlich Gute an der aktuellen Situation ist.
Denn perverserweise glauben wir Menschen, wir könnten nur dann etwas in unserem Leben verändern, wenn wir genügend Leidensdruck, genügend Schmerz dafür empfinden.
Wir kennen wahrscheinlich alle Menschen, die nach einem schweren Schicksalsschlag ihr Leben umgekrempelt haben.
Sei es, dass sie nach eine schweren Krankheit jetzt ganz anders, viel gesünder leben.
Dass sie nach einem Jobverlust sich endlich selbständig gemacht oder den Job ihrer Träume gefunden haben.
Oder dass sie nach einer Trennung, und nachdem der erste Schmerz überwunden war, nun viel glücklicher sind (und vielleicht sogar in einer sehr viel glücklicheren Beziehung).
Das alles sind große Veränderungen, die durch Schmerz angestoßen wurden – und wir bewundern diese Menschen dafür.
Aber auch im Kleinen ist es oft Schmerz, in welcher Form auch immer, der endlich Veränderung auslöst.
Der vermutete Herzinfarkt, der sich als Fehlalarm herausstellt – aber den Betroffenen trotzdem dazu bringt, endlich regelmäßiger Sport zu machen.
Die schwere Bronchitis, durch die jemand endlich aufhört zu rauchen.
Ein Streit, der uns dazu bringt, eine Beziehung auf eine neue Ebene zu stellen.
Doch wenn wir ganz ehrlich mit uns selbst wären, dann hätten wir das alles ja auch vorher schon gewusst – und jederzeit verändern können.
Dass sie mehr Sport machen sollten oder mit dem Rauchen aufhören, kommt für die meisten Menschen nicht überraschend.
Und schon ein gelegentliches Innehalten, ein ehrliches Hinterfragen, würde uns ganz leicht zeigen, wo in unseren Beziehungen etwas nicht stimmt, wo etwas anders sein sollte.
Das alles könnten wir ganz leicht anpacken – schon lange bevor irgendein Schmerz auftritt.
Nun scheint das menschliche Naturell in dieser Beziehung aber eher träge zu sein.
Oder anders gesagt: Um eine Veränderung zu vermeiden, würden die meisten Menschen fast alles tun.
Und am einfachsten ist es da natürlich, sich in die eigene Tasche zu lügen. Jedes Innehalten und jedes Hinterfragen zu vermeiden. Einfach so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre im eigenen Leben.
Es gibt nichts zu sehen, bitte gehen sie weiter!
Kurz: Wenn wir uns selbst überlassen wären, dann würde sich nie etwas ändern – dann würden wir uns nie ändern.
Nun bin ich der festen Überzeugung, dass wir alle auf dieser Welt sind, um etwas zu erreichen.
Dieses „Etwas“ ist aber kein Ziel, das sich messen lässt wie Geld oder Erfolg.
Wir sind hier, um zurück zu finden. Zurück zu uns selbst, zurück zu der Liebe, aus der wir alle kommen.
Und um dahin zu gelangen, müssen wir viele, viele Dinge loslassen, die wir vorher um uns selbst und um diese Liebe herumgeschlungen haben, aus Angst, zur Abwehr, oder warum auch immer.
Schlussendlich wäre das nicht schwer – wir müssten einfach nur Dinge loslassen.
Aber wie gesagt, wir Menschen sind träge. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Um uns selbst nicht ins Gesicht sehen zu müssen, scheuen wir uns vor Veränderung.
Und die Macht, die diese Welt geschaffen hat, die hat es deshalb ganz wunderbar und sehr weitsichtig so eingerichtet, dass wir in unserem Leben auch Schmerz erleben.
Denn ganz offensichtlich muss manchmal der Schmerz erst groß genug sein, damit wir uns darauf einlassen können, uns selbst anzusehen.
Und deshalb ist für mich der Schmerz, den so viele Menschen im Moment erleben, der eigentliche Gewinn aus dieser Situation.
Aus diesem Schmerz heraus ergibt sich die Bereitschaft zur Veränderung. Im Kleinen, für einzelne Menschen. Und im Großen, für unsere Gesellschaft.
Denn das viele Dinge nicht gut sind, so wie sie sind, das wussten wir alle schon vor Corona.
Keiner will Altersarmut oder Kinderarmut. Wir alle wünschen uns, dass Krankenschwestern und Altenpfleger fair bezahlt werden. Dass kleine Läden so viel verdienen, dass sie überleben können.
Doch vorher war es noch einfacher, die Augen zu verschließen und so zu tun, als ob wir all die Probleme nicht sehen.
Nun haben wir keine andere Wahl mehr als hinzusehen. Der Schmerz, für jeden einzelnen und kollektiv, ist zu groß, um noch so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre.
Und da so viele Menschen jetzt gleichzeitig diesen Schmerz verspüren, diesen Impuls haben, etwas zu verändern, ist das eben auch die einmalige Chance für uns, gemeinsam etwas zu verändern – nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen.
Schön finde ich die aktuelle Lage nicht, nein. Ich hätte mir gewünscht, dass es anders ist, dass es allen gut geht, dass keiner leidet.
Aber wo der Schmerz nun einmal da ist, können wir ihn ebensogut als die Chance begreifen, die er ist.
Wir können dankbar sein für diesen Schmerz, den das Leben uns geschenkt hat – und gleichzeitig tatkräftig daran arbeiten, das, was ihn auslöst, zu beseitigen. Das eine schließt das andere nicht aus…
Und was ist mit denen, die sich immer noch die Situation schönreden müssen, weil sie es noch nicht aushalten, dem eigenen Schmerz zu begegnen?
Nun, die nehmen wir liebevoll mit.
Denn jeder von uns hat seine wunden Punkte, jede ihre blinden Flecken. Deshalb sind wir gemeinsam auf dieser Welt, um uns gegenseitig zu stützen – und herauszufordern.
Und gemeinsam lassen wir aus der Asche etwas ganz Wunderbares erstehen.
Foto: Nikko Macaspac bei Unsplash
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