„Wir müssen die Alten schützen.“ Wenn ich diesen Satz noch einmal höre, muss ich schreien. Richtig, richtig laut schreien.
„Wir müssen die Alten schützen“ ist jetzt schon zu meinem persönlichen Un-Satz des Jahres geworden – und wir haben noch nicht einmal Mitte Februar!
Denn in diesem kleinen, oft wohlgemeinten (und viel zu oft gedankenlos nachgeplapperten) Satz stecken gleich drei Dinge, die ich nicht mehr aushalte:
„müssen“, „die Alten“ und „schützen“.
(Auf das Wort „wir“ gehe ich in diesem Text nicht weiter ein. Im Zusammenhang mit diesem Satz bedeutet es ganz oft nichts anderes als „jemand müsste mal“ oder „macht doch endlich“.
Ja, das ist ein Abschieben von Verantwortung.
Aber ganz ehrlich: In den anderen Elementen dieses Satzes stecken soviele Zumutungen, dass ich mich nicht mal mehr dazu aufraffen kann, darüber noch den Kopf zu schütteln..)
Aber da der Satz nun derzeit so häufig gesagt wird, und ich auch nicht immer einfach losschreien mag, habe ich stattdessen entschieden, mir meinen Ärger von der Seele zu schreiben. Und wer weiß… vielleicht geht es dir ja genauso wie mir?
Also los! Wir nähern uns diesem Un-Satz, dieser Zumutung, von hinten und schauen uns zuerst das letzte Element an…
Was heißt eigentlich „schützen“?
Was ist denn mit „schützen“ in diesem Kontext gemeint? In der Regel doch so etwas wie:
„Wir müssen die Alten und Gebrechlichen einsperren. Allein. In ihren Zimmern. Besuch nur noch höchstens einmal die Woche. Von einer Person. Mit Maske, Gesichtsvisier, Schutzkleidung, hinter einer Glasscheibe. Anfassen oder menschliche Nähe sind nicht mehr erlaubt.
Alles nur zu ihrem Schutz natürlich.
Nicht auszudenken, wenn ein Alter ein paar Wochen früher sterben würde, aber dafür noch Spaß hätte an seinem Leben!“
Mal ganz davon abgesehen, dass weder du noch ich Gott sind, und dass keiner von uns weiß, wer unter welchen Umständen tatsächlich wann gestorben wäre…
(Denn wer sagt uns, dass nicht mehr Alte in Pflegeheimen früher sterben, weil sie verkümmern oder aus schierer Einsamkeit aufgeben?)
Was ist das für ein „Schutz“, der Menschen quält?
Denn anders, sorry, kann ich es nicht mehr nennen.
Freiheitsentzug, Isolierung, Entzug von Berührungen und menschlicher Nähe, Trennung von Familie und Freunden, und das alles ohne jede zeitliche Perspektive und ohne jede Möglichkeit der Selbstbestimmung…
Das freundlichste Wort, was mir dazu noch einfällt, ist „menschenverachtend“.
Der vermeintliche „Schutz“ in diesem wohlgemeinten Un-Satz ist aber noch nicht das Schlimmste daran, auch wenn es mir beim Gedanken daran den Magen herumdreht.
Betrachten wir deshalb die zweite unerträgliche Zumutung: „die Alten“.
Wer sind denn „die Alten“?
Ich würde ja zu gerne mal genau wissen, wie so ein „Alter“ eigentlich ist, wie er lebt, was ihn so umtreibt.
Ist der über 70? Über 80? Noch älter?
Zählen dazu nur Pflegeheimbewohner? Auch alle, die zu Hause gepflegt werden? Oder ganz pauschal alle Menschen dieser Altersgruppe, egal wie fit sie noch sind?
Es ist eine Anmaßung sondersgleichen, all diese Menschen in eine Schublade zu stecken, nur weil es uns gerade bequem ist.
Und nein, auch ein Verfeinern der Gruppendefinition wird dieses Problem nicht lösen.
Wer bist du, wer bin ich, dass wir für alle fitten 70-Jährigen entscheiden dürften, ob sie sich isolieren müssen? Oder für alle vorerkrankten Mitt-Achtziger in Pflegeheimen?
Denn was mit dem wohlklingenden Satz „Wir müssen die Alten schützen“ eigentlich gemeint ist, ist:
„Wir definieren wer ‚alt‘ ist, und scheren die dann alle über einen Kamm. Ganz egal, was die Alten selber wollen.“
Was bisher noch keiner gemacht hat, ist die Alten zu fragen, was sie eigentlich wollen.
Das sollte ja nicht schwer sein, oder? Dafür muss man nur mit den Menschen reden – und ihnen auch zuhören…
Vielleicht gibt es fitte 70-Jährige ohne nennenswerte Vorerkrankungen, die ein gewisses Restlebensrisiko liebend gern in Kauf nehmen, wenn sie dafür reisen können, ins Theater gehen und ihre Enkel und Urenkel am anderen Ende Deutschlands besuchen.
Vielleicht gibt es auch fitte 70-Jährige ohne nennenswerte Vorerkrankungen, die sich große Sorgen über eine Ansteckung machen und lieber freiwillig zu Hause bleiben und die Urenkel über Skype sehen.
Vielleicht gibt es sehr gebrechliche Pflegeheimbewohner, die lieber jeden Tag Besuch von Freunden, alten Nachbarn und vor allem ihrer Familie bekommen, die sich lieber mit Mitbewohnern in den Gemeinschaftsräumen treffen – und all das unbeschwert und ohne Masken und Abstand! -, auch wenn sie vielleicht einen Infekt bekommen, an dem sie sterben könnten.
Vielleicht gibt es auch sehr gebrechliche Pflegeheimbewohner, denen das allein Sein nicht so viel ausmacht, die gerne allein am Fenster sitzen und nach draußen schauen und die das so lang wie möglich genießen wollen. Oder die unbedingt das nächste Weihnachtsfest oder ihre goldene Hochzeit erleben möchten, und sich dafür gerne vorher zur Sicherheit einschränken?
Keiner gibt dir oder mir (oder sonstwem) das Recht, diesen Menschen ihre Bedürfnisse oder ihre Träume abzusprechen.
Keiner hat das Recht, für sie zu entscheiden, wie sie leben wollen.
Aber genau das ist es, was wir uns mit dem Un-Satz „Wir müssen die Alten schützen“ anmaßen.
Von einem Einzelnen gesprochen ist dieser Satz anmaßend und übergriffig.
Gesellschaftlich gesehen führt er direkt in ein totalitäres System, in dem irgendjemand entscheidet, wie eine große Gruppe von Menschen leben darf.
Vor Letzterem gruselt es mich.
Das Erstere, von einem Einzelnen gesprochen… meine Freiheit, deine Freiheit, die hören da auf, wo die Freiheit der Alten anfängt.
Damit ist aber keine Pseudo-Solidarität gemeint, sondern echte Freiheit:
Die Freiheit, sein Leben so zu leben, wie man selbst möchte – um jeden Preis, auch um den des Todes.
Dieses Recht hat jeder. Auch jeder „Alte“.
Nun sind diese zwei Elemente, „schützen“ und „die Alten“, schon unerträglich genug: Übergriffig, totalitär, menschenverachtend.
Zu diesem toxischen Gemisch kommt in diesem Un-Satz nun noch das kleine, unscheinbare Wörtchen „müssen“…
Und warum „müssen“ wir das eigentlich?
„Müssen“ müssen wir eigentlich überhaupt nichts. Schließlich sind wir freie Menschen und entscheiden selbst, was wir tun und wie wir handeln. Und es gibt in jedem Moment Alternativen, auch wenn wir sie vielleicht nicht wahrhaben wollen.
Wir benutzen das Wort „müssen“ nur sehr gern, um Verpflichtungen auszudrücken oder um Verantwortung an andere abzugeben.
Und darin liegt, glaube ich, auch die Krux an diesem Satz „Wir müssen die Alten schützen.“.
Denn natürlich haben besonders die Schwächeren ein Recht darauf, geschützt zu werden.
Aber warum fühlen wir anderen uns dazu verpflichtet, diesen Satz immer wieder so gebetsmühlenhaft zu wiederholen?
Wir könnten es schließlich auch einfach tun, anstatt immer wieder darüber zu reden.
Vielleicht ist das einfach ein Ausdruck unseres schlechten Gewissens.
Denn wenn wir ganz ehrlich sind, dann schieben wir die Alten in unserer Gesellschaft an den Rand – und zwar umso mehr, je älter und gebrechlicher sie werden.
Wir entfernen sie aus unserer Mitte, aus unseren Familien und Nachbarschaften, und stecken sie in Pflegeheime, wo wir sie dann besuchen, wenn unsere Zeit es zulässt.
Und auch für die, die zu Hause leben, haben wir oft keine Zeit mehr.
Während die Alten (genau wie die Kinder) früher ein Teil der Familie und der Gesellschaft waren, sind sie inzwischen von der Mitte mehr und mehr an den Rand gerutscht.
Und ich glaube, das tut uns weh.
Denn wir alle wollen eigentlich unsere alten Verwandten, Nachbarn und Freunde nicht loswerden, sondern sie bei uns behalten und mit ihnen sein.
Es ist uns ein Bedürfnis, für sie da zu sein, an ihrem Leben teilzuhaben, sie an unserem teilhaben zu lassen, und ja, auch etwas von ihnen zu lernen.
Doch das moderne Leben (ein seltsamer Begriff… doch du weißt gewiss, was ich meine) kostet uns zunehmend die Zeit, die wir uns gern für andere Menschen nehmen würden – und wir wissen nicht, wie wir dieser Spirale je wieder entkommen können.
Bei den jüngeren Menschen ist es meist nicht so gravierend, wenn uns die Zeit für sie fehlt. Schließlich gehen wir immer davon aus, dass wir noch viele Jahre mit ihnen haben und das alles nachholen können.
Bei den Alten hingegen wird uns schmerzlich bewusst, wie wenig gemeinsame Zeit wir noch haben.
Und weil das so weh tut, schieben wir diese Erkenntnis auch unter normalen Umständen so weit von uns weg wie möglich.
(Hey, wir sind alle nur Menschen, oder?)
Denn wenn wir uns wirklich vergegenwärtigen würden, wie wenig Zeit wir uns für andere nehmen, dann müssten wir aus diesem Schmerz heraus ins Handeln kommen und etwas ändern – an unserem eigenen Leben und an unserer Gesellschaft.
Deshalb ist es nur allzu menschlich, dass wir das von uns schieben und uns einreden, dass die Alten schließlich gut aufgehoben sind.
Durch diese ganze Coronasache scheint auf einmal ein Licht in diese dunkle Ecke unseres eigenen Lebens und unseres Miteinanders… und wir können uns nicht mehr länger einreden, dass doch in diesem Bereich alles in Ordnung ist.
Auf einmal wird uns bewusst, dass Alte in Pflegeheimen sitzen und auf Besuch warten.
Dadurch können wir auch unser eigenes schlechtes Gewissen nicht mehr ganz ausblenden.
Und um das zu kompensieren, tun wir eben etwas gegen das schlechte Gewissen – mit der naheliegenden Forderung, „die Alten zu schützen“.
Die Alternative wäre, den Schmerz darüber auszuhalten, dass wir Fehler gemacht haben und machen, und dass wir vielleicht (als Gesellschaft und auch als einzelne Menschen) nicht immer gut mit unseren Alten umgehen.
Aus dieser Erkenntnis heraus könnten wir dann nach besseren Lösungen suchen, nicht nur für die Coronazeit – aber dafür müssten wir eben zuerst einmal bereit sein, unserer eigenen Unzulänglichkeit ins Gesicht zu sehen.
Da ist es irgendwie doch einfacher zu fordern, dass „wir die Alten schützen müssen“…
Ich glaube aber, dass noch ein zweites Element dazu kommt: die Angst vor unserem eigenen Tod.
Corona führt uns vor Augen, wie schnell wir alle sterben können.
Und ganz ehrlich, wer befasst sich schon gern damit?
Dann doch lieber den Tod (und alle Gedanken daran) so lange wie möglich vermeiden!
Ergo müssen auch alle Alten so lange wie möglich am Leben erhalten werden.
Egal mit welchen Mitteln. Egal unter welchen Lebensumständen.
Hauptsache, es stirbt niemand – so dass du und ich uns nicht damit auseinandersetzen müssen, dass wir auch irgendwann einmal sterben werden.
Ob die Alten so, unter diesen Umständen, überhaupt leben möchten, dass fragen wir sie dann besser nicht.
Am Ende könnte sich herausstellen, dass die viel abgeklärter sind… dass sie den Tod viel weniger fürchten, aber das Leben viel mehr lieben als wir.
Und dann müssten wir vielleicht doch noch unserer eigenen Angst vor dem Tod ins Gesicht sehen.
Ne, lass mal, da schützen wir doch lieber die Alten.
(Dieser Text hat zu einem sehr interessanten Austausch mit zwei Menschen geführt, die selbst nicht mehr zu den ganz Jungen gehören. Ich habe ihre Gedanken hier für dich festgehalten.)
Gewidmet dem jungen Alten, der mir im letzten Frühjahr schon erklärt hat, warum er von mir nicht „geschützt“ werden muss. Danke für alles! :-)
Foto: Paolo Bendandi bei Unsplash
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