Es gibt Texte, Zitate, Gedichte, die mich bewegen und nicht mehr loslassen. In letzter Zeit ging es mir so mit zwei Zeilen aus einem wunderbaren Gedicht von Mary Oliver:
„Tell me, what is it you plan to do
with your one wild and precious life?“
„Sag mir, was planst du mit deinem einen
wilden und kostbaren Leben zu tun?“
Das eine wilde und kostbare Leben… was für ein wundervolles Konzept! Denn tatsächlich haben wir genau dieses eine Leben, und das macht jeden Moment in diesem Leben zu einem kostbaren Moment. Es macht jeden Moment zu dem einen Moment, in dem wir das tun sollten, für was wir bestimmt sind und was wichtig für uns ist.
Stattdessen sieht die Realität ganz anders aus. Wir verbringen so gut wie alle dieser kostbaren Moment damit, völlig unwichtige Dinge zu tun:
Wir planen den Einkauf oder hetzen noch eben zur Drogerie.
Wir treiben unsere Kinder bei den Hausaufgaben an (anstatt mit ihnen Ball zu spielen).
Wir verbringen viele Minuten bei der Arbeit damit, Listen auszufüllen, um die neuesten Vorschriften zur Dokumentation zur erfüllen. Und noch mehr Stunden damit, unsinnige Besprechungen oder Konferenzen abzusitzen, die entweder kein Ergebnis haben oder deren Ergebnisse nie umgesetzt werden.
Wir gehen zu Geburtstagsfeiern von Menschen, an denen uns nichts liegt, nachdem wir extra noch ein Geschenk gekauft haben, das diesen Menschen vermutlich nicht einmal gefallen wird.
All dies sind kostbare Momente — und was tun wir damit?
Aber Mary Oliver geht noch weiter. Sie erinnert uns daran, das unser eines Leben nicht nur kostbar ist, sondern auch wild.
Ein wildes Leben… Können wir uns das überhaupt leisten? Müssen wir jetzt alle zu Hausbesetzern werden oder zu Aussteigern, die in einem buddhistischen Kloster nach dem Sinn des Lebens suchen?
Müssen wir alle unsere Verantwortungen ablehnen, unsere Familie zurücklassen oder die Kinder ignorieren, um uns unseren Lebenstraum erfüllen? Alles hinwerfen, um durch eine vermeintliche „Offene Tür“ zu gehen und einen wilden Lebensabschnitt zu beginnen?
Sicher gibt es Menschen und Situationen, in denen ein Neuanfang in welcher Form auch immer angebracht ist. In den meisten Fällen aber ist gar nicht der große Umbruch, die völlige Veränderung notwendig, um mehr kostbare und wilde Momente in unser Leben zu bringen.
Was notwendig ist, auch darauf weist uns Mary Oliver ein paar Zeilen vor dem obigen Zitat in ihrer wunderbaren Sprache hin:
„I do know how to pay attention, how to fall down
into the grass, how to kneel down into the grass,
how to be idle and blessed, how to stroll through the fields,
which is what I have been doing all day.
Tell me, what else should I have done?“„Ich weiß, wie ich aufmerksam sein kann, wie ich ins Gras fallen kann,
wie ich ins Gras knien kann,
wie ich müßig und gesegnet sein kann, wie ich durch die Felder schlendern kann,
das ist was ich den ganzen Tag getan habe.
Sag mir, was sonst hätte ich tun sollen?“
Das wilde und kostbare Leben liegt also nicht im großen Umbruch… nicht in den lebensverändernden Entscheidungen… nicht einmal darin, die Welt zu verändern.
Das wilde und kostbare Leben zeigt sich im Respekt für jeden unserer Augenblicke. Es zeigt sich im Hier-Sein, im Da-sein in jedem Moment.
Es zeigt sich darin, dass wir wissen, was wir mit unserem einen wilden und kostbaren Leben tun möchten. Und das wir es dann in immer mehr Augenblicken auch tasächlich tun.
In diesem Sinne wünsche ich dir für heute wenigstens einen wilden und kostbaren Moment!
P.S.: Das Gedicht „The Summer Day“, aus dem diese Zitate entnommen sind, findest du in dem Buch „House of Light“ von Mary Oliver.
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